Coaching und Gestalttheorie

Wahrnehmungen kritisch hinterfragen

Ein wesentlicher Beitrag der Gestalttheorie für das Coaching liegt darin, dass die Wahrnehmungen der Coachees für wahr, im subjektiven Sinn, angenommen werden und kritisch hinterfragt werden, im Sinne des „kritischen Realismus“, z.B. mit Fragen wie: Was sind die Fakten oder Tatsachen? Wie kommt es zu dieser Wahrnehmung? Mit welchen Gefühlen ist das Wahrgenommene verbunden? Gibt es andere Sichtweisen? Wie wird das Wahrgenommene bewertet?

Von Selbstorganisations- und Selbstheilungskräften ausgehen

Die „Tendenz zur guten oder ausgezeichneten Gestalt“ (Metzger 1975: 207 ff.), wonach wir Wahrgenommenes nach den für uns sinn- und bedeutungsvollen Kriterien ordnen oder erkennen, bedeutet auch, dass wir von den Selbstorganisations- und Selbstheilungskräften der Coachees ausgehen.

Unerledigte Geschäfte erledigen

Im Coaching leisten wir Hilfe zur Selbsthilfe. Dabei berücksichtigen wir Hindernisse oder Blockaden durch „nicht geschlossene Gestalten“. Alles, was nicht erledigt, abgeschlossen oder im Sinne der Gestaltpsychologie keine gute Gestalt ist, beschäftigt uns weiter und benötigt Energie. Deshalb ist es sinnvoll im Coaching daran zu arbeiten, sogenannte unerledigte Geschäfte zu erledigen, damit Energie für das Gewünschte frei wird.

Wechsel von Figur und Hintergrund

Noch ein Beispiel zum Figur-Hintergrund-Prinzip: Dieses wird, so wie andere Gestaltprinzipien, besonders anhand der optischen Täuschungen deutlich (siehe die Kippbilder Pokal/Gesichtsprofile, alte/junge Frau, Würfel etc.). Was als Figur oder als Hintergrund wahrgenommen wird, ist neben wahrnehmungspsychologischen Prinzipien vom Unbewussten abhängig. Im Coaching unterstütze ich Coachees, sich bewusst zu machen und zu reflektieren, wie es zu der jeweiligen, manchmal fixierten Wahrnehmung kommt.

Je nach Coachingziel kann ein Wechsel von Figur und Hintergrund sinnvoll sein, um flexibel zu werden im Denken, Fühlen und Wollen. Eine Veränderung des Blickwinkels kann zu vollkommen neuen Lösungsideen führen.

Z.B. kann eine Coachee den drohenden Jobverlust, auf den sie fixiert ist (= Figur), als Möglichkeit sehen, sich mutig für die eigenen Ideen, Werte und Fähigkeiten einzusetzen, die zuvor im Hintergrund standen. In einer Situation, in der möglicherweise die Kündigung fast sicher ist, kann die Coachee ermutigt werden, der eigenen Führungskraft die bisher zurückgehaltene eigene Sichtweise mitzuteilen, da sie vielleicht nichts mehr zu verlieren hat, sondern nur gewinnen kann. Im Coaching können „best case“- und „worst case“-Szenarien immer mit dem Wechsel von Figur und Hintergrund erarbeitet werden.

Rollengespräch

Mit der Methode des Rollengesprächs, in dem Coachees sich in die verschiedenen Rollen hineinversetzen, können die unterschiedlichen Sichtweisen geäußert werden. Gelingt es Coachees, auch die Gefühle des Menschen, in den sie sich hineinversetzt haben, zu schildern, wird die Wahrnehmungsfähigkeit erweitert. Dadurch entstehen mehr Entscheidungsmöglichkeiten und mehr Freiheiten.

In Konfliktsituationen können wir z.B. Coachees unterstützen, das nicht konfliktäre Umfeld ins Blickfeld zu rücken, die gemeinsamen Ziele und die Chancen des Konflikts zu sehen, statt nur auf den Konflikt und die negativen Seiten der Parteien fixiert zu sein (siehe Glasl / Weeks 1992 und Vogelauer 2013).

Hier-und-Jetzt-Prinzip

Nach dem Hier-und-Jetzt-Prinzip ist die Aufmerksamkeit auf die Gegenwart und die wirkenden Kräfte konzentriert. Durch das gegenwärtige Erleben der eigenen Potentiale und das achtsame Umgehen mit den eigenen Impulsen können die Fähigkeiten der Coachees entdeckt oder entwickelt werden. Coaching sollte ein Ort schöpferischer Freiheit sein, in dem Coachees inspiriert werden.

Gefühle und körperliche Empfindungen wahrnehmen

Ein anderer Aspekt aus der Gestalttherapie ist das Ziel, abgespaltene oder verleugnete Anteile der Persönlichkeit wieder zu integrieren. Im Coaching werden wir zwar nicht therapeutisch arbeiten, aber wir können Coachees unterstützen, Gefühle oder körperliche Empfindungen wahrzunehmen. Die Identifikation mit diesen vielleicht nicht wahrgenommenen Seiten oder Sichtweisen wird z.B. in der Arbeit mit dem leeren Stuhl oder in Rollengesprächen angewendet.

Wertvolles aus der Gestalttheorie für das systemisch-evolutionäre Coaching

  • So wie auch die Systemtheorie regt die Gestalttheorie dazu an, Wahrnehmungen kritisch zu hinterfragen und rigide Wahrnehmungen zu verflüssigen, wenn sie dysfunktional sind. Der Wechsel von Vordergrund und Hintergrund kann dabei helfen.
  • Wie die Systemtheorie geht die Gestalttheorie davon aus, dass das Verhalten eines Menschen von vielfältigen Umweltvariablen mitgeprägt wird (Feldabhängigkeit). Gleichzeitig weist sie auch auf die Systemkräfte im Inneren hin und auf die Entwicklungsdynamik, die zwischen inneren und äußeren Kräften entsteht. Besonders wichtig für das systemisch-evolutionäre Coaching ist hier die ordnende Kraft von zugkräftigen Zielen.
  • Noch deutlicher als viele Ansätze der Systemtheorie weist die Gestalttheorie auf die Nicht-Beliebigkeit in der Begleitung von Entwicklungsprozessen hin und gibt hier wertvolle Hinweise für die Prozessgestaltung.
  • Das Schließen von Gestalten und unerledigten Geschäften macht unsere Energie und Aufmerksamkeit frei. Das gilt auch für das Integrieren ausgeblendeter Gefühle und Empfindungen.
  • Die Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Moment nach dem Hier- und Jetzt-Prinzip ist die Quelle für die Begegnung zwischen Coach und Coachee, für die Integration ausgeblendeter Anteile, für Inspiration und schöpferische Freiheit.
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