Entwicklungsphasen im Lebensgang eines Individuums
Auszug aus
Johannes Narbeshuber (Hrsg)
In Beziehung. Wirksam. Werden.
Der systemisch-evolutionäre Coaching-Ansatz der Trigon Entwicklungsberatung
Entwicklungsphasen im Lebensgang eines Individuums
Bekanntlich können sich Erlebnisse in der Kindheit auf das weitere Leben sehr prägend auswirken. Darum sind die Kinder- und Jugendjahre intensiver erforscht als die Erwachsenenzeit oder die Altersphase. In meiner Darstellung fokussiere ich auf die Adoleszenz und das Erwachsenenalter im Berufskontext, weil die Klientele des Coachings in der Regel zu dieser Altersgruppe gehört und kollegiale Beziehungen zu Erwachsenen unterhält. Für die Berufsausübung von Lehrerinnen und Lehrern ist selbstverständlich eine genaue Kenntnis der Psychologie der Kindheit und Jugend wichtig – doch an dieser Stelle muss ich auf die Spezial-Literatur verweisen.
In vielen Kulturen wird das Leben in drei Hauptphasen gegliedert: (1) Rezeptive Phase, lernen, (2) Expansive Phase, (3) Soziale Phase oder Altersweisheit. Innerhalb dieser Abschnitte lassen sich Jahrsiebte nachweisen (Borysenko 2001, Burkhard 1997, Guardini 1986, Hoerner 1990, Klotz 2015, Lauer 1952, Lievegoed 1991, Treichler 1981).
Die „rezeptive Phase“ 0 – 21
Menschen bringen mit der Geburt eine besondere physische Konstitution und ihr Temperament mit und werden nun in den ersten Jahrsiebten beinahe ausschließlich durch ihre Umgebung geprägt. Im Alter von 0 – 7 sind die Kinder allen Stimuli ihrer Umgebung ausgeliefert und werden dadurch gefördert, geschädigt oder krank gemacht, wobei sich die Folgen oft erst im späteren Leben zeigen. In der frühen Kindheit findet Lernen statt, weil die Mutter, der Vater und andere nahe Bezugspersonen in vielerlei Hinsicht nachgeahmt werden. Das verdanken wir der neuronalen Struktur der „Spiegelneuronen“ (Bauer 2005).
Im Alter von 7 – 14 haben Personen als „verehrte Autoritäten“ – ob im realen Leben oder aus der Literatur – größeren Einfluss, weil das Kind ihnen nachzustreben trachtet. Durch Einleben in unterschiedliche Rollen erwirbt sich das Kind Fähigkeiten, die ihm später als Erwachsener Rollenflexibilität erlauben, ohne als Individuum seine Identität zu verlieren.
Von 14 – 21, vor allem in der Pubertät, sind junge Menschen viel mehr daran interessiert, mit ihrem Verhalten die Zuneigung und Anerkennung Gleichaltriger zu gewinnen. Gleichzeitig wird der Kosmos der eigenen Gefühlswelt entdeckt und erschlossen. Etwa ab dem siebzehnten oder achtzehnten Lebensjahr spielt die Suche nach Idealen und die Bewunderung für Idole eine große Rolle; darin kann sich bereits eine Lebenszielsetzung ankündigen, die in den nächsten Jahren mehr realisierbare Züge annimmt. Für junge Menschen im dritten Jahrsiebt bedeutet es sehr viel, dass sie mit ihren Idealen ernst genommen werden und ihre oft scharfe Kritik der Erwachsenen, die sich im Widerspruch zu ihren deklarierten Werten verhalten, nicht abgewiesen, sondern verstanden wird.
Die „expansive Phase“ 21 – 42
Im Jahrsiebt 21 – 28 besteht ein starkes Bedürfnis, durch Experimentieren die eigenen Potenziale und Grenzen kennen zu lernen; gute Ratschläge älterer Menschen können hier kein Ersatz dafür sein, sich und die Welt durch Fallen und Aufstehen selber empfindend zu erfahren. Dazu werden in den „Wanderjahren“ verschiedene Führungsstile und Organisationskulturen aufgesucht, um daran zu einem eigenen Stil zu finden. Direktive Führung und direktes Feedback werden zwar oft als schmerzhaft erlebt, tragen aber am besten dazu bei, die eigenen Fähigkeiten auch im Vergleich mit anderen Kolleginnen und Kollegen wahrzunehmen und bestätigt zu erhalten. Rudolf Steiner bezeichnet diesen Lebensabschnitt als Phase der Entwicklung der „Empfindungsseele“ im sozialen Kontext (Steiner 1980; Treichler 1981).
In den Lebensjahren 28 – 35 wird das Bedürfnis stärker, die Erfahrungen nicht nur emotional auszuloten, sondern auch voraus-denkend und nach-denkend zu erarbeiten. Im Privatleben und im Beruf wird mehr Wert gelegt auf Planung und rationale Steuerung des Handelns. An die Stelle des Ausprobierens tritt mehr kalkulierendes Abwägen der Vor- und Nachteile, der Chancen und Risiken. Mit der Zeit haben Erwachsene gelernt, aus den Rückmeldungen der anderen das aufzugreifen, was den eigenen Zielvorstellungen entspricht, um sich ihr eigenes Urteil über ihr Können zu bilden. Dies ist die Phase, in der nach Steiner (1980) die „Verstandes- und Gemütsseele“ zur Entfaltung kommt
Die Lebenszeit 35 – 42 bringt einerseits eine gewisse Saturiertheit, weil sich Erwachsene ihrer Potenziale sicher sein können – und das erlaubt eine gewisse Routine; andererseits kommt periodisch bei der Vorstellung, was die nächsten Dezennien des Lebens bringen könnten, Unruhe auf. Die Fähigkeit nimmt zu, sein Denken und Tun aus der Metaperspektive selbstbewusst und doch selbstkritisch anzuschauen und zu reflektieren. Die Charakteristika diese Phase werden in der anthroposophischen Psychologie als „Bewusstseinsseelen-Entwicklung“ bezeichnet.
Die „midlife-crisis“ ca. 40 – 45
Das selbstkritische Hinterfragen der eigenen Lebensführung und des bisher Erreichten mündet etwa um das vierzigste Lebensjahr in die bekannte „Lebensmitte-Krise“. Es geht um Fragen der weiteren Lebensziele (Erikson 1973, Lievegoed 1991: 78 ff.), auch wenn eine durchaus akzeptable gesellschaftliche Position erreicht worden ist. Dennoch kommen Fragen und Zweifel auf: Was ist meine wahre Identität? Wie sehr selbstbestimmt oder fremdbestimmt bin ich jetzt? Inwieweit konnte ich meine Werte verwirklichen? Habe ich zu viele Kompromisse gemacht? Behindert mich mein berufliches und privates Umfeld in der Selbstverwirklichung? Bin ich mit dem richtigen Mann bzw. der richtigen Frau verheiratet?
In der Zeit der Krise kommen Sehnsüchte auf, die Energie der expansiven Jahre zurückzufinden, weil sich Minderungen der körperlichen Leistungsfähigkeit bemerkbar machen. Frauen und auch Männer verspüren hormonale Veränderungen und können dadurch verunsichert werden. Frauen werden sich bewusst, dass ihre Gebärfähigkeit dem Ende zugeht, und das kann als Versäumnis empfunden werden. Männer wie Frauen denken daran, vielleicht den Beruf oder die Organisation zu wechseln, eventuell auszuwandern und nochmals ganz neu zu beginnen. Gleichzeitig erhalten sie Signale, die sie mit den Schwächen und unangenehmen Eigenschaften konfrontieren, die für andere Mitmenschen ärgerlich sind. Die Kernfrage der konstruktiven Krisenbewältigung ist, ob jemand vor sich und der Situation flüchten will – aber sich selbst unverändert in eine neue Situation mitnimmt –; oder ob sich jemand der Herausforderung stellt, an den eigenen Schwächen und Stärken zu arbeiten und Initiativen zu ergreifen zu einer authentischen Lebensgestaltung.
Die „soziale Phase“ 42 – bis zum Tod
Wenn jedoch die konstruktive Bewältigung der Lebenskrise gelungen ist, können im Jahrsiebt 42 – 49 neue Kräfte frei werden und zum Einsatz kommen. Es zeigt sich, dass sich Menschen seelisch und geistig von der abnehmenden körperlichen Leistungsfähigkeit emanzipieren können, wenn sie sich aus Überzeugung für ein sinnvolles Ziel einsetzen. Sie können jetzt mit neuen Zielen an ihre Arbeit strategisch herangehen – z.B. indem sie sich für die Förderung jüngerer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einsetzen –, auch wenn sie äußerlich ihre Stelle nicht verändert haben sollten. Oder sie entscheiden sich in der Gesellschaft zu bestimmten ehrenamtlichen Pionierleistungen. Die Stärke dieser Phase ist oft, dass Menschen andere für innovative Ziele begeistern können und sich nicht zum eigenen Vorteil, sondern für einen gesellschaftlichen Nutzen kämpferisch betätigen. Nach Auffassung der Römer regiert in dem Alter der Kriegsgott Mars, der den Menschen konstruktive kämpferische Kraft verleihen kann.
Vorausgesetzt, dass im vorhergehenden Jahrsiebt eine sinnvolle Lebensgestaltung gelungen ist, können im Lebensabschnitt 49 – 56 Fähigkeiten zur Entfaltung kommen, die ich als „Panoramablick“ bezeichne: Menschen haben das Bedürfnis, Entscheidungen unter Berücksichtigung vieler Aspekte und in Verantwortung für künftige Generationen zu treffen. Sie können Ideen und Werte und philosophische oder religiöse Positionen, die anderen Menschen als unvereinbar erscheinen, verstehen und nicht als Widerspruch, sondern als Bereicherung schätzen. Ihr geistiger Horizont ist weiter und umfassender geworden. Sie wissen und akzeptieren aber auch, dass es für die Verwirklichung langfristiger und weiträumiger Visionen Geduld braucht – mit sich und den Mitmenschen.
Wenn die geistige und seelische Entwicklung weitergeht, sind für den Lebensweg nach 56 die körperlichen Gegebenheiten immer weniger die entscheidende Basis der Leistungsfähigkeit. Das Interesse und die Fähigkeiten verlagern sich auf Fragen nach dem Wesentlichen der Arbeit, der Beziehung, der gesellschaftlichen Orientierungen. Zum einen wird auf das bisherige Leben zurückgeblickt mit Freude für das Gelungene und mit Bedauern für das, was man anderen Menschen an Leid zugefügt hat. Manches wird jetzt begonnen, im Wissen, dass es wahrscheinlich unvollendet bleiben wird. Deshalb bezeichne ich diese Haltung als „Bereitschaft, an einer Lose-Blatt-Sammlung des Lebens“ zu arbeiten Dabei hat jedes einzelne Blatt für sich Wert, auch wenn andere einmal das ganze Werk zu Ende führen sollten.
Für alle hier angeführten Charakteristika der einzelnen Phasen gilt, dass manche Menschen bestimmte Orientierungen und Fähigkeiten schon früher oder später entwickeln, weil dies das Leben von ihnen fordert oder die Umstände erschweren bzw. sogar verhindern. Aber in der Regel treffen diese Beschreibungen zu – auch unabhängig vom offiziellen Bildungsstand und der beruflichen Position. Diese knappe Darstellung gibt Orientierungspunkte für das Verstehen der unterschiedlichen Sicht eines Menschen auf sich, auf Mitmenschen und die Organisation zu geben. Das kann bei Beziehungen zwischen Menschen, die sich in unterschiedlichen Jahrsiebten befinden, dazu beitragen, dass sie die Unterschiedlichkeit der Ansprüche an sich selbst und an andere besser respektieren können. Das gilt insbesonders auch für Führungsfragen, wenn sich die Beteiligten auf verschiedenen Entwicklungsstufen befinden. So werden sie nicht voneinander etwas erwarten, das vielleicht gegen die Herausforderung des gerade durchlebten Entwicklungsstadiums wäre.
Friedrich Glasl hat den systemisch-evolutionären Coaching-Ansatz der Trigon Entwicklungsberatung maßgeblich mitgeprägt. Mehr dazu erfahren Sie im Buch In Beziehung. Wirksam. Werden. und in unserer Coaching-Ausbildung an den Standorten Köln/Bonn/Düsseldorf, Salzburg und Wien.