Utilisation

Das Prinzip der Utilisation (lat.: „utilis“ – brauchbar, nutzbar, tauglich) geht auf die moderne Hypnotherapie Milton H. Ericksons (1901–1980) zurück und meint, dass jedes Phänomen genutzt wird, welches sich als zieldienlich anbietet, egal ob dieses innerhalb oder auch außerhalb des Beratungskontextes liegt, unabhängig davon, ob es bei den Coachees liegt, in ihrem Umfeld (sprich Heimatsystem) oder im Beratungssystem. Dabei kommen nicht nur offensichtliche Stärken oder positiv bewertete Eigenschaften, Verhaltensweisen bzw. Kontext-Bedingungen zum „Einsatz“, sondern vielfach auch solche, die (ursprünglich) eher als problematisch oder wenig hilfreich eingestuft wurden.

Hier nur eine kleine Auswahl davon, was alles „utilisiert“ werden kann:

  • Sprache (Metaphern, spezifische Sprachmuster…),
  • Eigenheiten/Verhaltensweisen im Umgang miteinander (Kommunikation/Interaktion),
  • Problem-Muster (typische Dynamiken, häufig unwillkürlich, Rituale, Dramaturgie…),
  • Kontext/Setting (Umfeldvariablen im Rahmen von Mustern),
  • Persönliche Charakteristika i.S.v. Persönlichkeitsmustern (Konfliktscheu, Perfektionismus, Zwanghaftigkeit …),
  • Raum- und Körperwahrnehmung (Enge/Weite, Nähe/Distanz, Druck- und Zugempfinden, Temperatur …),
  • Zeitwahrnehmung (Beschleunigung, Verlangsamung, Orientierung in Zeit…),
  • Häufig gezeigte Rituale u. soziale Prozeduren,
  • Fokus der Aufmerksamkeit (Enge/Weite des Fokus? …),
  • Physiologische Veränderungen (Atmung, Haut, Pupillen, Bewegungen…) u.v.m.

Wofür utilisiere ich?

Utilisation nutzt – wie der Name bereits andeutet – jede sich bietende Eigenschaft, Haltung, Rahmenbedingung, Verhaltensweise usw., die geeignet erscheint, in zieldienlicher Art und Weise der Zielsetzung der Coachees förderlich zu sein. Utilisation bietet sich z.B. auch dann an, wenn Coachees (aus Sicht des Beraters bzw. Coach) wenig oder nicht „kooperieren“ oder permanent auf Defizite fokussieren. Klassische Ansätze haben sich hier häufig des Konzepts des „Widerstands“ bedient und damit mehr oder weniger direkt eine Schuldzuweisung bzw. weitere Defizitbeschreibung der Coachees produziert – in den wenigsten Fällen suchen Beraterinnen und Berater die Schuld bei sich ;-).

Aus der Perspektive des Utilisationsansatzes ist dieses gezeigte Verhalten der Coachees jedoch kein Problem, sie melden damit bestenfalls (in häufig zwar indirekter Art und Weise) anerkennenswerte „Bedenken“ an, sei es in Hinblick auf die Kooperationsbeziehung, die angewandte Methodik, die (vermeintlich) zielführende Lösung etc.

Auch von Coachees eher abgewertete oder unerwünschte Eigenschaften etc. („Mein blöder Perfektionismus!“, „Meine verdammte Gutmütigkeit“ usw.) können utilisiert werden – Stärken (Ausdauer, Disziplin, Selbstbewusstsein…) sowieso.

Hypnosystemisch gedacht ergibt sich hier lediglich die Aufgabe, sich jenen Kontext auszumalen, in welchem genau diese Beiträge als Kompetenz verstanden werden können. Hierfür bietet sich die Frage des „Wofür?“ als sinnvolle Intervention an (also wofür, für welches Anliegen, ist dieses Verhalten etc. zieldienlich bzw. könnte es zieldienlich sein?), anstelle des üblichen „Warum“. Phänomene wie Jammern, Defizitbeschreibung, Strategien des Ausweichens („Ja aber…“) usw. werden dann als anerkennenswerte Lösungsstrategien bzw. -versuche erkennbar, die dazu dienen, z.B. Bindung herzustellen (Jammern), Wertschätzung für Erlittenes bzw. jahrelange (wenn auch vergebliche) Lösungsversuche, Vermeidung von Enttäuschungen oder Überforderungen („Ja aber…“ „…hat noch nie geklappt“…) u.v.m. Jedes dieser „Angebote“ bzw. Phänomene sollte dann so utilisiert werden, dass daraus die größtmöglichen Chancen entstehen, kompetenzfokussierende Wahrnehmungen zu gestalten, sodass jene wiederum bislang „schlummernde“ Kompetenzen bzw. Ressourcen (re)aktiviert werden können.

Gerade Verhaltensmuster und spezifische (auch ungeliebte) Eigenschaften der Coachees sind ja über lange Zeit erprobt, laufen somit „automatisch“ ab – oft eben auch unwillkürlich und/oder an ungewünschter Stelle –, stellen jedoch immereine Kompetenz und Ressource dar: Wer etwa bei öffentlichen Auftritten gerne „rot anläuft“ besitzt (wenn auch unwillkürlich, unbewusst und meist unerwünscht) die Fähigkeit, seine Durchblutung massiv zu beeinflussen, gleiches gilt für Menschen, die bei Nervosität kalte und/oder feuchte Hände bekommen… wer das in dieser einen Situation kann, kann dies jedoch potentiell auch in anderen – wo es u.U. hilfreich sein kann, meist wissen die Coachees jedoch (noch) nicht wie!

Interessanter Nebeneffekt ist meist auch, dass Phänomene, die bislang abgewehrt oder abgewertet wurden, nicht selten „in den Hintergrund rücken“ oder gar verschwinden, sobald sie als Kompetenz erkannt und damit „umgewertet“ werden (siehe auch Teilearbeit).

Mögliche Schritte

Schritt 1 – Observe – observe – observe

Wir erhalten laufend Informationen von und über unsere Coachees – viele davon können, auch wenn dies vordergründig (noch) nicht erkennbar ist, im Sinne einer zieldienlichen Utilisation Verwendung finden. Wir sollten uns solche Beobachtungen (möglichst ohne Abwertung) notieren oder im Hinterkopf behalten, wie z.B.:

  • Coachee ist hoch strukturiert, überpünktlich, schreibt alles mit…
  • Coachee errötet und zeigt motorische Unruhe bei der Beschreibung von Situation/Person X…
  • Coachee entschuldigt sich mehrfach und „unterwürfig“ wegen geringfügiger Verspätung, macht selbstabwertende Bemerkungen, geht laufend in die Rechtfertigung…
  • Coachee kann Vorschläge von Vorgesetzten nicht tolerieren, jene von Kolleginnen und Kollegen jedoch schon… etc.

Schritt 2 – Wo werden Ressourcen nicht (als solche) erkannt oder gar abgewertet?

Ressourcen können sich an unerwarteten Stellen zeigen! Wie bereits ausgeführt, verstecken sich nicht selten hinter abgewerteten Eigenschaften, die Coachees sogar oft „weghaben“ möchten, unerwartete und gut nutzbare Ressourcen, hier ein paar Beispiele dafür:

  • Perfektionismus zeigt u.a. die Fähigkeit, sich tief und eingehend mit Themen zu beschäftigen, ausdauernd dran zu bleiben bis ein gewünschtes Ergebnis erzielt ist…
  • Unordnung kann auch als Fähigkeit gedeutet werden, mit unstrukturierten Situationen gut zurecht zu kommen, wenig Notwendigkeit zu verspüren, sich bestimmten Ordnungsnormen zu unterwerfen…
  • Konfliktscheu zu sein ist, ressourcenorientiert betrachtet, oft mit einer hohen Soziabilität, also einem ausgeprägten Harmoniestreben verbunden, was es erlaubt, sich u.U. gut in Gruppen zu integrieren…
  • Wer es allen recht machen will zeigt die Fähigkeit zu erkennen, welche Bedürfnisse andere haben, hat gute empathische Seiten, ist stark am sozialen Umfeld orientiert usw.

Schritt 3 – Einsatz identifizierter Ressourcen im Sinne des angestrebten Zieles

 

  • Angenommen, eine Coachee ist im Coaching um an einer Verbesserung ihrer Work-Life-Balance zu arbeiten, so zeigt sich häufig eine Kombination folgender Persönlichkeitsmerkmale: hoch ausgeprägte Leistungsmotivation (oft auch Gestaltungsmotivation) mit der Tendenz, sich selbst anzutreiben bei gleichzeitig hohem Grad an Gewissenhaftigkeit und Perfektionsstreben. Darüber hinaus oft verbunden mit einer geringen Fähigkeit, sich abzugrenzen („Nein“ zu sagen), oft auch einhergehend mit faktisch geringen Möglichkeiten der Einflussnahme (Empfinden im „Hamsterrad“ zu sein) und oft auch überzogenen Erwartungen an sich selbst, was die physische Leistungsfähigkeit anlangt.
    • All die genannten Faktoren stellen, jede für sich gesehen, Ressourcen dar, auch wenn sie möglichweise in der genannten Kombination in ein Burnout führen können – jedes dieser Merkmale ist meist über viele Jahre „erfolgreich“ erprobt und gelebt worden. Wie können diese nun utilisiert werden? Noch dazu, wenn die Coachee darüber klagt, dass sie ja wisse, dass sie sich besser abgrenzen, sich besser entspannen sollte, mal Fünf gerade sein lassen sollte usw.
    • Nun – was kann die Coachee gut? Planen, strukturieren, gewissenhaft und ausdauernd arbeiten – bislang für andere, für ihren Job, für die Firma… Alternativ könnte sie diese Kompetenzen jedoch auch dafür nutzen (utilisieren), um „gewissenhaft“ ihre Freizeit „einzuplanen“, „Termine mit sich selbst“ zu vereinbaren, zu erkennen, dass es „ihre verdammte Pflicht“ ist „auf sich selbst zu achten“ im Sinne ihrer „Ressourcen-Erhaltung“ (aber auch im Sinne ihrer Firma) usw. usf.
  • Der Coachee mit „Lampenfieber“, der die massive Nervosität vor und am Anfang von Präsentationen und/oder Auftritten beklagt und diese daher im Coaching bearbeiten will, kann u.U. (und dies muss nicht für alle gelten) erkennen, dass das Gefühl der Anspannung, der flacher werdende Atem, die kalten und feuchten Hände, die roten Flecken an Hals und im Gesicht sowie die roten Ohren zeigen, dass sein Körper gerade dabei ist, ausreichend Energie frei zu setzen, die ihn dafür fit macht, auf all seine Kompetenzen schnell und effizient zugreifen zu können. Er weiß aus seiner Erfahrung, dass dieser Zustand meist wenige Minuten nach dem Beginnen zu Ende ist und er dann souverän den Rest bewältigen kann, er weiß aber auch, dass er manchmal ohne dieses Maß an Nervosität „nicht rüberkam“, dass „der Funke nicht überprang“ etc. Gelingt es ihm, seine Symptome anders zu bewerten, sie „zu begrüßen“ als „Signal-Zeichen“ für ausreichend guten „Spannungsaufbau im Sinne einer optimalen Leistungsfähigkeit“, dann reduzieren sich diese in aller Regel auf ein erträgliches, ja sogar angenehmes Maß („ein anregendes Prickeln“).
  • Der Coachee, der nach einem (vermeintlichen) „Blackout“ bei zwei kurz nacheinander stattfindenden Firmenpräsentationen an sich und seiner Souveränität zu zweifeln beginnt und um seine Reputation sowie seine Position fürchtet, kann diese wiederfinden, wenn er entdeckt, wie er in vielen anderen Situationen „die Kontrolle“ und damit seine Selbstsicherheit behält. Das Erkennen folgender Kaskade kann für ihn hilfreich sein: Das Blackout wird als „Mangel und Makel“ wahrgenommen, vor allem von ihm selbst, der hohe Ansprüche an sich und andere hinsichtlich „Unfehlbarkeit“ hat – erstmals hat er eine Situation nicht unter Kontrolle – dies löst das Gefühl der Angst und Unsicherheit aus („Ich blamiere mich!“, „Wie kann mir sowas nur passieren!“, „Was mach ich jetzt bloß?“) – dies verstärkt jedoch das „Symptom“ noch mehr… usw.
    Das Bewusstsein, dass der Anspruch der „Unfehlbarkeit“ überzogen ist und dass humorvoller oder auch selbstironischer Umgang mit eigenen Fehlern ihm sogar „menschliche“ und sympathische Züge verleihen könnten (zwei Gleichungen: Fehlerfrei = Maschine versus Fehler = Mensch), nehmen viel Druck aus der Situation. Die eine oder andere kleine Intervention (Hoppalas oder Unsicherheit direkt ansprechen, die Zuhörer einbinden und fragen, wo man denn eben stehen geblieben war etc.) geben wieder Kontrolle über die Situation (ich verstumme nicht, sondern bleibe in der aktiven Rolle) und damit die alte Souveränität zurück.

Wichtige Aspekte beim Einsatz

  • Wichtig und hilfreich ist es, der oft massiven „Einladung“ der Coachees, in deren „Problemtrance“ zu folgen, nicht nachzugeben. Wenn bestimmte Situationen, Verhaltensweisen oder Eigenschaften etc. besonders abgewertet werden, kann es sinnvoll sein, gerade diese durch die „Ressourcen-Brille“ zu betrachten und sich (und den Coachees) die Frage zu stellen, welche Kompetenz sich dahinter verbirgt, wo und unter welchen Bedingungen diese eine Stärke, ein Vorteil, eine Ressource sein könnte.
  • Auch hierbei sollten wir uns von den Coachees und deren Anliegen leiten lassen und nicht diese mit vorschnellen „Ratschlägen“ und/oder Hypothesen konfrontieren, die dann gar als „Wahrheiten“ bzw. Zuschreibungen präsentiert werden. Eine gute Mischung aus Erfahrung, Intuition und viel Empathie sind beim Aufspüren von „Utilisations-Quellen“ meist sehr hilfreich.
  • Eine gute Übung für uns kann sein, uns bei allen angebotenen Beschreibungen, Bewertungen und Interpretationen der Coachees innerlich die Fragen zu stellen: „… und welche Ressource versteckt sich dahinter? … wie könnte man dies genau gegengleich sehen/bewerten/denken? …in welcher Situation könnte dies eine Stärke/ein Vorteil/eine Ressource sein? …“
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